Warum gibt es überhaupt Deutschlands höchste Eisenbahnbrücke heute im Bergischen Land, wo lag die Notwendigkeit? Das Land ist topografisch schwierig, was einen Bau einer solchen Brücke zu einer waghalsigen Idee machte. Außerdem waren doch schon alle großen Städte des Bergischen Landes mit der Eisenbahn verbunden. Nicht zuletzt war der Bau der Brücke nicht nur anstrengend, sondern auch teuer.
Heute mag einem die Frage merkwürdig vorkommen, da sich die Müngstener Brücke schnell zu einer Selbstverständlichkeit entwickelte. Doch gab es beim Bau der Eisenbahn im Bergischen Land teils erhebliche Bedenken. Derlei hitzige Diskussionen, wie man das in jüngerer Vergangenheit durchaus auch von modernen großen Bauvorhaben kennt. Dennoch war und ist die Müngstener Brücke im Wirtschaftsraum Bergisches Land als Direktverbindung im Bergischen Städtedreieck zur Notwendigkeit geworden! Trotz eindeutiger Ablehnung aus Berlin Mitte des 19. Jahrhunderts schlossen sich die Städte Remscheid und Solingen zusammen. Ihr Konzept: Der Bau einer direkten Verbindung beider Städte, um enger wirtschaftlich zusammenarbeiten zu können. Es ging, wie sollte es auch anders sein, auch damals vor allem um Geld.
Wirtschaftliche Entwicklung des Bergischen Lands
Das Bergische Land entwickelte sich mit dem Einsetzen der Zweiten Industrialisierung schnell zum größten Wirtschaftsraum des damaligen Kaiserreichs. Das Bergische Land fertigte und produzierte bereits mit Metall, Eisen und Stahl, als z.B. das Ruhrgebiet noch landwirtschaftlich geprägt war. Auch die Chemische Industrie und Textilindustrie erlebte nun, angeschlossen an die Eisenbahn, einen gehörigen Aufwind. Es galt, was im 19. Jahrhundert überall galt:
Die Eisenbahn brachte Wohlstand und ließ Regionen prosperieren
Das Bergische im Kaiserreich: Wasserkraft und Eisenbahn
Niedergelassen an den Flüssen und Bächen entwickelte sich eine große industrielle Struktur, die bis heute weltweit Gewicht hat. Die Nutzung der Kraft des Wassers war ein Standortvorteil für die Wirtschaft im Bergischen Land. Allerdings erwarb man damit direkt einen Nachteil: Die Beschaffung der Ressourcen. Das Bergische Land hatte für die Befriedigung der Industrie zu Zeiten der Zweiten Industrialisierung nahezu keine eigenen Bodenschätze. Das Bergische hatte durchaus Bergbau und zahlreiche Stollen und Bergwerke, doch ertragreich waren diese nie. Erst recht war es nicht möglich, damit dem wachsenden Hunger nach Rohstoffen im 19. Jahrhundert gerecht zu werden.
Ohne die Eisenbahn wurde Kohle und Erz aus über 40 km Entfernung mit Pferdekarren das Rheinische Schiefergebirge hinauf getragen. Das Bergische hatte sich bereits spezialisiert auf Eisen und Stahl aus England. Der Bau der Müngstener Brücke erhielt man die lang ersehnte Direktverbindung über Solingen und die wenige Jahre zuvor fertiggestellte Strecke bis an den Rhein. Und erst die Eisenbahn vermochte der Region zu bedeutender Blüte zu verhelfen, was sich auch direkt in der Urbanisierung des Bergischen Lands niederschlug. Vor allem das Städtedreieck Wuppertal-Remscheid-Solingen erlebte dank der Eisenbahn diesen Aufschwung. Handelsbeziehungen, die zwischen Remscheid und Solingen schon immer existieren, konnten mit der Müngstener Brücke florieren.
Die Notwendigkeit für den Bau lag im Erhalt der Konkurrenzfähigkeit der Region
Notwendigkeit für Remscheid – Stadt auf der Höhe
Remscheid, auch genannt „Seestadt auf dem Berge„, hat hier als bedeutender Wirtschaftsraum der Stahlindustrie und der mittelständig geprägten Wirtschaft den Nachteil bergiger Höhen und somit tiefer Täler topografisch besonders erfahren. (Alt-) Remscheid ist auf einem Berg gebaut, der die höchste Ergebung einer Großstadt nördlich der Donau ist. Während Wuppertal oder Solingen durch die geringere Höhe noch vergleichsweise einfach über die Rheinschiene mit der Welt verbunden werden konnten, mussten für Remscheid ungleich höhere Klippen genommen werden. Höhenunterschiede von mehreren Hundert Metern auf kürzesten Distanzen finden sich viele in Remscheid.
Die Müngstener Brücke wurde vor allem für die Entwicklung Remscheids notwendig
Bereits im September 1868 wurde die Strecke von Wuppertal-Oberbarmen, damals noch Rittershausen genannt und Remscheid, nach langen Planungen und einer mehrjährigen Bauphase feierlich und unter großem Interesse der Bürger eingeweiht. Doch sollte es noch einige Jahrzehnte eine Stichstrecke bleiben, an dessen Ende Remscheid Hbf lag. Dieser führte, trotz Erweiterung nach Remscheid-Hasten und Bliedinghausen schon immer ein Schattendasein zum Bf. Remscheid-Lennep. Dieser war das eigentliche Tor in die Welt von Remscheid, denn Lennep war der Bahnknotenpunkt der Stadt.
Zeitnah nach der Eröffnung und dem Nachweises der Wirtschaftlichkeit der Strecke wurden Stimmen laut, eine direkte Verbindung zum Rhein zu ermöglichen, und nicht zuletzt die beiden Städte Solingen und Remscheid zu verbinden. Denn obschon man von den Höhenlagen Solingens seit jeher direkt auf Remscheid schauen konnte und umgekehrt, sie also in Luftlinie nur weniger Kilometer auseinander lagen, war der Weg durch die tiefen, die Städte teilenden Täler per Pferd mühsam, per Pedes anstengend und per Schiene durch Wuppertal langwierig. In einem weiten Bogen war erst nach 44km Solingen mit der Schiene aus von Remscheid zu erreichen, Luftlinie sind es gerade mal 8.
Die Entscheidung für die Müngstener Brücke
Pläne für eine Verbindung gab es schon, noch bevor die Strecke Rittershausen (heute Wuppertal-Oberbarmen) – Lennep geplant wurde. Dass die Pläne jedoch zunächst nicht realisiert wurden, lag in der Schwierigkeit der Topografie des Bergischen Lands. Und hätte es den Eiffelturm des Erzfeinds Frankreich in Paris nicht gegeben, wer weiß ob man im Deutschen Kaiserreich den Ansporn gehabt hätte, ihren Eiffeltrum ins Bergische Land zu bauen. Denn es ist ein offenes Geheimnis, dass die Müngstener Brücke auch eine Reaktion auf den Eiffelturm war, auch eine Demonstration deutscher Ingenieurskunst, auch eine politische Entscheidung.
Das Kaiserreich hielt es für eine Notwendigkeit, auf den Eiffelturm zu reagieren
Solingen und Remscheid konnte dies nur recht sein. Sie hatten schließlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihre direkte Zugverbindung, die sie so dringend benötigten. Die Zugverbindung hatte allerdings einen hohen Preis: Während die Brücke selbst schon über 2,5 Millionen Reichsmark kostete, waren die übrigen Kosten mit ebenfalls nochmal 2,5 Millionen Reichsmark als Preis z.B. für die Trassierung enorm. Es ist fraglich, ob ein solches Projekt, dass den Bürgern damals derart viel abverlangt hat, heute in der Form noch möglich wäre. Fakt bleibt aber, dass die Brücke über die Jahre ihre Kosten wert war, denn nachweislich blühten die Städte mit der Eisenbahn und der dann durchschlagenden Industrialisierung auf. Noch heute ist die Strecke mit 20 Minuten Zugtaktung eine der frequentiertesten Nahverkehrsstrecken Deutschlands mit mehreren 1000 Fahrgästen täglich.
Wie sehr man die Müngstener Brücke auch heute noch braucht, wissen die täglichen Pendler am Besten, mussten sie doch während der langwierigen Vollsperrung während der Sanierung der Brücke in den 2010er Jahren einen erheblichen Umweg mit dem Bus als Schienenersatzverkehr in Kauf nehmen. Ganz so beschwerlich, wie zu Kaisers Zeiten.